"Trösten, die vergessene Kunst "

3.Teil : " Hingucken? Ja, - aber freundlich!"

Ich war mit den Kindern auf dem Rückweg vom Einkaufen gewesen, als uns ein junger Mann im Rollstuhl entgegen kam. Rollstuhlfahrer waren keine Seltenheit, dieser Mann aber war gleichzeitig kleinwüchsig mit einem Buckel. Er schien Spastiker zu sein, denn sein Gesicht war leicht verzerrt und Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel. Ich hatte ihn ab und zu im Einkaufszentrum gesehen, bisher aber immer in der Anonymität einer größeren Menschenmenge. Heute waren wir weit und breit die einzigen und wir würden uns nach wenigen Metern begegnen. Wie in Zeitlupe nahm ich meine eigenen Gedanken wahr.

Ich war im Zwiespalt: Als ich noch klein war, war es in meiner Familie üblich gewesen, „diskret“ zu sein, wenn bei jemand anderem etwas „nicht in Ordnung“ war. Ich war darauf trainiert worden, anderen Menschen „peinliche Situationen“ zu ersparen…Das war sicher gut gemeint. Aber mir kamen Zweifel, ob dieses Verhalten hier ebenfalls angebracht war. Was, wenn jeder, der ihm begegnete, „diskret“ war? Wie sollten wir uns verhalten? Hinschauen, und seine Behinderungen, seine Schwächen wahrnehmen? Vielleicht wäre es ihm unangenehm und er würde er sich angestarrt fühlen? - Oder besser so tun, als ob wir ihn nicht sehen? Nein! - Das war viel schlimmer!

Es gab nur eine Lösung: Freundlich hinschauen, so wie wenn man jemanden trifft, den man gerne mag! Mit wenigen Worten erklärte ich den Kindern, was ich mir überlegt hatte. Wir wollten ihn anschauen, aber es sollte nicht „neugierig“ wirken. Es sollte kein „Anstarren“ sein. Wir wollten ihn einfach freundlich anschauen und im Vorbeigehen grüßen, wie jemanden, den wir vom Sehen kennen und den wir mögen…Unser Gruß wurde übrigens von dem jungen Mann freundlich erwidert. Und beim nächsten Zusammentreffen grüßten wir uns bereits wie alte Bekannte.

Im Nachhinein weiß ich, dass ich damals eine Grundsatzentscheidung getroffen habe. „Lieber einmal zu viel hinschauen, als einmal zu wenig!“ Auf die Situation mit meiner Nachbarin bezogen hieß das: „Lieber einmal zu viel fragen, als einmal zu wenig!“ Ich wollte lieber das „Risiko“ eingehen, eventuell eine abweisende Antwort zu bekommen, als einen Menschen in seinem Leid und seinen Schwierigkeiten allein zu lassen, dem es vielleicht von selber nicht möglich war, um Hilfe zu bitten.


Fortsetzung folgt!
Die Namen der beteiligten Personen wurden geändert, um ihre Identität zu schützen.